Freidenker in der Schweiz

Das vor­lie­gen­de Buch geht auf eine Dis­ser­ta­ti­on des Autors zurück, die 2020 erfolg­reich an der Uni­ver­si­tät Lau­sanne ver­tei­digt wur­de. Zur Pro­mo­ti­ons­ju­ry gehör­ten die renom­mier­ten deut­schen Reli­gi­ons­wis­sen­schaft­ler Moni­ka Wohl­rab-Sahr und Gert Pickel sowie der schwei­ze­ri­sche Sozi­al- und Poli­tik­wis­sen­schaft­ler Georg Lutz. Die Stu­die selbst ist das Ergeb­nis eines vom „Schwei­ze­ri­schen Natio­nal­fonds“ geför­der­ten For­schungs­pro­jek­tes der Uni­ver­si­tä­ten Bern und Lau­sanne über Reli­gi­ons­lo­sig­keit und Säku­la­ris­mus, das 2015 begann.

Anfang März 2018 stell­te Pas­cal Tan­ner im Medi­en­dienst „Fowid“ der „For­schungs­grup­pe Welt­an­schau­un­gen in Deutsch­land“, gelei­tet von Cars­ten Frerk, die ers­ten wesent­li­chen Befun­de vor. Sie sind seit­dem in Deutsch­land öffent­lich. Nun lie­gen die Ergeb­nis­se als Buch gedruckt vor und man wünscht sich für Deutsch­land ähn­li­ches Enga­ge­ment reprä­sen­ta­ti­ver Stif­tun­gen zur Erfor­schung der hie­si­gen säku­la­ren Orga­ni­sa­tio­nen und ihrer Bei­trä­ge zu einer posi­ti­ven Sicht auf „Ver­welt­li­chun­gen“.

Tan­ner schrieb damals auf „Fowid“ ein­lei­tend: „Vie­le Frei­den­ke­rin­nen und Frei­den­ker haben sich 2016 an der Natio­nal­fonds­stu­die zu Säku­la­ren in der Schweiz betei­ligt. Unter­des­sen lie­gen ers­te Ergeb­nis­se vor. Die­se zei­gen, dass die Mit­glie­der von reli­gi­ons­kri­ti­schen Orga­ni­sa­tio­nen (‘Säku­la­ris­ten’) sehr ein­heit­li­che Iden­ti­täts­merk­ma­le haben, mit ihrer reli­gi­ons­kri­ti­schen Hal­tung vor allem gesell­schafts­po­li­ti­sche For­de­run­gen ver­bin­den und dass sie im Ver­gleich zur Gesamt­be­völ­ke­rung über­durch­schnitt­lich gut gebil­det sind.“[1]

Im Text von 2018 fin­det sich zahl­rei­ches Zah­len­ma­te­ri­al, das die Ergeb­nis­se unter­mau­ert. Auch das vor­lie­gen­de Buch zeich­net sich durch 33 Abbil­dun­gen und 16 Tabel­len aus. Es besitzt ein Sach­re­gis­ter. Das umfäng­li­che Lite­ra­tur­ver­zeich­nis belegt die sozio­lo­gi­sche Ver­or­tung des Pro­jek­tes und eine gewis­se Distanz zu his­to­ri­schen Her­lei­tun­gen, etwa zur Rol­le der ethi­schen Kul­tur­be­we­gung. Dar­auf wird abschlie­ßend zurückgekommen.

Auch die Glie­de­rung betont die erfreu­lich stren­ge Anleh­nung an sozio­lo­gisch-fach­wis­sen­schaft­li­che Stan­dards: Ein­lei­tung, For­schungs­stand, Metho­de, Frei­den­ker­tum, Schluss­be­trach­tung und Anhang. Letz­te­rer bringt zusätz­li­che Infor­ma­tio­nen, ergän­zen­de Tabel­len und 51 in ihren Erträ­gen kom­pri­mier­te Inter­views mit Akti­ven der Freidenkerszene.

Beson­ders über die Erkennt­nis­se im Kapi­tel „Frei­den­ker­tum“ – letzt­lich eine Mit­glied­schafts­ana­ly­se – wür­de sich jede frei­geis­ti­ge Orga­ni­sa­ti­on in Deutsch­land freu­en, wenn sie sich in die Kar­ten schau­en lässt. Zusam­men­ge­fasst ergibt sich: Ein Mit­glied ist „typi­scher­wei­se männ­lich, arbei­tet in einem tech­ni­schen oder ratio­na­lis­tisch gepräg­ten Berufs­feld, hat einen hohen Bil­dungs­ab­schluss, besitzt eine Schwei­zer Staats­bür­ger­schaft, ver­fügt über ein hohes Ein­kom­men und lebt im urba­nen Raum. Eben­falls typisch ist, dass die Mit­glie­der eine kla­re sowie reflek­tier­te Abgren­zung gegen­über dem Reli­giö­sen vor­neh­men. Sie haben sich mit Reli­gi­on und Säku­la­ris­mus befasst, kön­nen infor­miert dar­über spre­chen und tun dies ger­ne. Dies unter­schei­det sie von reli­gi­ons­lo­sen Per­so­nen und – wenn man einer in der Grup­pie­rung wei­ter ver­brei­te­ten Iden­ti­täts­er­zäh­lung folgt – auch von den meis­ten reli­gi­ös zuge­hö­ri­gen Per­so­nen.“ (S. 145) Die Frei­den­ker­or­ga­ni­sa­ti­on hat mit ande­ren ähn­li­chen Orga­ni­sa­tio­nen außer­halb der Schweiz gemein­sam: eine „Zunah­me von Res­sour­cen lässt sich … nicht nach­wei­sen“; d.h., die Mit­glie­der­zahl stagniert.

Wesent­lich an der Dar­stel­lung ist, dass der Autor her­aus­ar­bei­tet, dass der schwei­ze­ri­sche Frei­den­ker­ver­band an Volks­ent­schei­den zum Staat-Kir­che-Ver­hält­nis betei­ligt war, sie sogar initi­ie­ren half. Er hat sein Anlie­gen nicht mit rein säku­la­ri­sie­ren­den Argu­men­ten ver­knüpft, son­dern huma­nis­ti­sche und ratio­na­lis­ti­sche Wert­vor­stel­lun­gen vor­ge­tra­gen, also weni­ger ver­nei­nend als viel­mehr beja­hend auf­trat. Dabei spiel­ten auch ritu­al­ähn­li­che Fei­ern, etwa Namens­ge­bun­gen, eine posi­ti­ve Rol­le, die Frei­den­ker nicht als Sek­te erschei­nen zu lassen.

Dies ist umso erstaun­li­cher, als im Unter­su­chungs­zeit­raum 2015 bis 2020 das rein zah­len­mä­ßi­ge Erschei­nungs­bild dies hät­te erwar­ten las­sen kön­nen: Etwa zwei­tau­send Mit­glie­dern stan­den fast fünf Mil­lio­nen orga­ni­sier­te Chris­ten gegen­über, mit einer Mehr­heit von rund drei Mil­lio­nen Katho­li­ken. Auch die Zahl der Mus­li­ne nahm zu. In einer Fuß­no­te (S. 2) wird die Situa­ti­on noch deut­li­cher gezeich­net: „Bei einem Bevöl­ke­rungs­be­stand von 8,65 Miil­lio­nen heisst dies, dass 33,7 % der stän­di­gen Wohn­be­völ­ke­rung ab 15 Jah­ren der römisch-katho­li­schen Kir­che ange­hör­ten und 21,8 % der evan­ge­lisch-refor­mier­ten Lan­des­kir­che.“ Genau­er erfolgt dies S. 21.

Fast die Hälf­te der Bevöl­ke­rung gehört dem­zu­fol­ge kei­ner oder einer ande­ren Bekennt­nis­ge­mein­schaft an. Der Autor sieht die Frei­den­ker als Teil einer säku­la­ris­ti­schen Bewe­gung, die über die „Frei­den­ker-Ver­ei­ni­gung der Schweiz“ (FVS) hin­aus­reicht. Er nennt fünf Ver­bin­dun­gen (vgl. S. 11 f.), deren gesam­te Anhän­ger­schaft aber gerin­ger ist, als der FVS Mit­glie­der hat.

Der rea­le Ein­fluss sol­cher Orga­ni­sa­tio­nen auf Säku­la­ri­sie­run­gen wird erst genau­er zu ermit­teln sein, wenn die Ent­zau­be­run­gen des Reli­giö­sen durch die Kapi­ta­li­sie­rung der Pro­duk­ti­on, der all­ge­mei­nen Käuf­lich­keit von Wert­vor­stel­lun­gen dazu in Bezie­hung gesetzt wird, ganz in Tra­di­ti­on der Sozio­lo­gen Marx, Durk­heim, Weber und Tön­nies, um nur die­se vier Alt­vor­de­ren zu nen­nen. Dies sei kurz in Erin­ne­rung geru­fen. In der Dar­le­gung des For­schungs­stan­des geht Tan­ner auf diver­se Aspek­te und Schrif­ten ein (vgl. S. 15–37).

Zur Grup­pe der Nicht-Reli­gio­si­tät sei­en die For­schun­gen man­gel­haft ent­wi­ckelt. Das, so sei hier ange­merkt, ist aber wohl welt­weit so. Aus Medi­en­nut­zungs- und Kon­sum­ana­ly­sen lie­ßen sich sicher eini­ge Schlüs­se auf dor­ti­ge Wert­vor­stel­lun­gen und Säku­la­ri­sie­run­gen wie neue reli­gi­ons­ar­ti­ge Ein­stel­lun­gen zie­hen. Doch sind die Befun­de, etwa bezo­gen auf Gläu­big­keit, wohl wenig ergie­big – was aber nur auf die rela­ti­ve Unwich­tig­keit orga­ni­sier­ter Gläu­big­keit in die­sen Berei­chen zeigt. So ist in Kri­mi­nal­fil­men die Rede eines Pfar­rers auf einem Fried­hof ledig­lich ein Signal, kei­ne Botschaft.

Gesell­schafts­kri­tik war nicht Objekt des Pro­jekts, son­dern der FVS und sein Umfeld. Der Gegen­stand des Autors bringt es mit sich, die Wert­ori­en­tie­run­gen des nicht­re­li­giö­sen Teils der Bevöl­ke­rung in einem dezi­diert athe­is­ti­schen Umfeld zu suchen. Da er zugleich nach einer Ver­bin­dung mit Huma­nis­mus Aus­schau hält, stößt er auf die Vari­an­te „säku­la­rer Huma­nis­mus“ (vgl. S. 29 f, beson­ders S. 30, Fuß­no­te 58; noch ein­mal grund­sätz­lich S. 147 f.), da er im Huma­nis­mus selbst nur eine unschar­fe Kate­go­rie sieht. Dis­ku­tiert wird der Begriff zu wenig.

Hier zeigt sich, wie nötig es aktu­el­le Befun­de haben, sich auch his­to­risch zu ver­or­ten; und wie nötig es ist, zwei­tau­send Jah­re Huma­nis­mus nicht ein­fach außen vor zu las­sen, zumal gera­de Frei­den­ker­ver­bän­de seit 1990 sich dar­um bemü­hen, hier moder­ner zu wer­den. Wenn in der vom Autor erwähn­ten Frei­den­ker-Stu­die von 1975 „eine Aus­rich­tung am Huma­nis­mus abzu­le­sen ist“ (S. 35), so wäre dies ein sehr frü­her Ver­such, neue Begrün­dun­gen für eine moder­ne Frei­den­ke­rei zu fin­den. Das auf­ge­fun­de­ne Huma­nis­mus-Ver­ständ­nis wäre genau­er dar­auf­hin anzuschauen.

Solan­ge die Geschich­te der ethi­schen Kul­tur­be­we­gun­gen unter dem Blick­win­kel der unvoll­stän­di­gen Abwen­dung von Reli­gi­on gese­hen wird, wer­den Frei­den­ker, beson­ders, wenn sie eine eige­ne prak­ti­sche huma­ni­tä­re Arbeit anstre­ben, nicht zu ihren (ver­ges­se­nen) huma­nis­ti­schen Wur­zeln fin­den. Tan­ner selbst kon­sta­tiert dies als Desi­de­rat. „Wie genau sich das Wech­sel­spiel aus Brü­chen und Kon­ti­nui­tä­ten der frei­den­ke­ri­schen Grup­pen­iden­ti­tät über die Span­ne einer mehr als hun­dert­jäh­ri­gen Bewe­gungs­ge­schich­te ent­wi­ckelt hat, wur­de bis­lang noch nicht umfas­send unter­sucht. Eine Bear­bei­tung die­ser The­ma­tik wür­de sich des­halb gera­de­zu aner­bie­ten“. (S. 151)

Das ist umso drin­gen­der, weil eine Orga­ni­sa­ti­ons­ge­schich­te eben kei­ne Bewe­gungs­ge­schich­te ist, schon gar kei­ne His­to­rie einer Kul­tur­be­we­gung; und weil jede Unter­su­chung davon abhängt, wie weit der Frei­den­ker­be­griff gefasst wird. Es böte sich als ers­ter Schritt die Kennt­nis­nah­me des Abschnit­tes „Die frei­geis­ti­ge Bewe­gung in der Schweiz“ in Max Hen­nings „Hand­buch“ von 1914 an, Ver­fas­ser ist Alex­an­der Wini­ger.[2] Der Autor nennt fünf Orga­ni­sa­tio­nen, dar­un­ter den welt­li­chen „Frei­mau­rer­bund zur Auf­ge­hen­den Son­ne“, der auch in Deutsch­land wich­tig war.

Selt­sa­mer­wei­se nennt auch er nicht die huma­nis­ti­sche „Schwei­ze­ri­sche Gesell­schaft für ethi­sche Kul­tur“, ver­bun­den mit dem Namen Gus­tav Mai­er. Zürich war an der Wen­de zum 20. Jahr­hun­dert zeit­wei­se ein zen­tra­ler Ort die­ser Bewe­gung in Euro­pa und behei­ma­te­te den „Inter­na­tio­na­len Ethi­schen Bund“ bis zur Ver­le­gung von des­sen Büro nach Lon­don. Ein wich­ti­ger und ein­fluss­rei­cher Autor der dama­li­gen Frei­den­ker war der Ber­ner Fried­rich Wyss, bei sei­nem Tod 1918 Mit­glied des „Schwei­ze­ri­schen Freidenkenkerbundes“.

Tan­ner fin­det immer wie­der Spu­ren des Huma­nis­mus. Deut­lich wird dies bei eini­gen Ant­wor­ten der inter­view­ten Per­so­nen, die sich als Huma­nist oder Huma­nis­tin bezeich­nen: „Mit die­ser [Bezeich­nung, HG] wer­den bestimm­te Wer­te oder eine bestimm­te Hal­tung ver­bun­den, die kei­nen unmit­tel­ba­ren Brzug zum Reli­giö­sen erken­nen las­sen. Sie wird benutzt, um eine posi­tiv kon­no­tier­te Selbst­be­schrei­bung zu ent­wer­fen, in deren Mit­tel­punkt nicht Reli­gi­ons­kri­tik steht, son­dern der Mensch.“ (S. 99)

  1. Säku­la­re in der Schweiz | fowid — For­schungs­grup­pe Welt­an­schau­un­gen in Deutsch­land [18.1.2014].
  2. Vgl. Hand­buch der frei­geis­ti­gen Bewe­gung Deutsch­lands, Öster­reichs und der Schweiz. Jahr­buch des Wei­ma­rer Kar­tells 1914. Hrsg. im Auf­trag des Wei­ma­rer Kar­tells von Max Hen­ning. Mit einer Über­sichts­kar­te. Frank­furt a. M. 1914, S. 417–425.