Pazifismus
Sucht man heute in der Presse das Wort Pazifismus, dann findet es sich meist in negativer Anwendung als feiges Verhalten, aber zugleich als etwas, was im Bewusstsein der deutschen Bevölkerung zu überwinden sei, weil die Weltlage es erfordere. Im Umkehrschluss kann man folgern, dass Pazifismus weit verbreitet ist.
2011 wurde in Deutschland die Allgemeine Wehrpflicht ausgesetzt. Seitdem erübrigen sich Einrichtungen wie die am 2. März 1957 gegründete „Zentralstelle für Recht und Schutz der Kriegsdienstverweigerer aus Gewissensgründen“ (Zentralstelle KDV in Freiburg). Damals, im Kalten Krieg, galt schon als Pazifismus, was nur den Anschein erweckte, sich den Russen zu ergeben. Die „Badische Zeitung“ erinnerte in der Ausgabe vom 2. März 2007, aus Anlass des 50. Jahrestages der Gründung, an den exemplarischen Fall des Udo Hegar, Jahrgang 1934, Arzt, zum so genannten Weißen Jahrgang gehörend, den man 1967 gern unter die Reservisten gesteckt hätte: „In jenen Zeiten der Ekstase, als viele im Kalten Krieg noch von „roll back“ träumten – ‚Siegreich wollen wir Russland schlagen‘ –, ruhte ein begehrlicher Blick auf allen halbwegs Gesunden.“[1]
Das Wort „Pazifismus“ gehört zu denjenigen Kategorien in politischen Auseinandersetzungen, bei denen falsches Verstehen vorausgesetzt werden kann. Es wird meist mit einer Haltung identifiziert, die einer Passage aus dem Neuen Testament folgt. Dort schreibt Matthäus (5, 39) dem Jesus folgenden Spruch zu: „daß ihr nicht widerstreben sollt dem Übel; sondern, wenn dir jemand einen Streich gibt auf deine rechte Backe, dem biete die andere auch dar“, worauf (5, 40) sogar noch folgt, dass, wenn mir jemand meinen Rock stiehlt, ich ihm noch den Mantel schenken soll.
Pazifisten wird in dieser Interpretationslinie unterstellt, sie würden jede Gewalt ablehnen, auch jede Selbstverteidigung. Doch ist genau dies nicht der ethische Kern des Pazifismus,[2] sondern die Ablehnung bewaffneter Konfliktlösungen. Um diesen großen Unterschied teils klein zu reden, teils bewusst zu ignorieren, wird Pazifismus häufig gesehen als Ablehnung jeder Gewalt – als ob nicht die Gewalt friedlicher Demonstration auch eine Gewaltform wäre. Über die Gewalt, die von Pazifisten akzeptiert wird und deren zivilgesellschaftlichen Formen, gibt es von Beginn an widerstreitende Diskurse.
„Gewalt“ steht immer in konkreten kulturhistorischen Zusammenhängen, in denen sich das Verständnis davon wandelt. Das führt dazu, dass als „gewaltfrei“ geltende Widerstandsformen, wie etwa Sitzblockaden, in anderen Zeiten als psychische Gewalt interpretiert und entsprechend juristisch als nicht pazifistisch beurteilt und mit Strafen belegt werden können. Die gesamte Geschichte pazifistischen Denkens kann in diesem Sinne als ständiges Auftürmen solcher „Missverständnisse“ gesehen werden. Bellizisten neigen dazu, jedes Aufbegehren gegen ihre als „Realpolitik“ vorgetragene Haltung als nicht legitimes, nicht überlegenswertes oder ganz und gar nicht effektives Mittel politischer Auseinandersetzung und Interessendurchsetzung zu halten. Sie beschreiben Pazifisten als weltferne Spinner, die fern wirklicher Krisenszenarien agieren oder (wenn man freundlich zu ihnen sein will) utopische Gedanken haben.
Dieses „Missverständnis“ beginnt schon bei der Definition. Der heute geläufige Ausdruck „Pazifismus“ ist abgeleitet vom lateinischen Substantiv „pax“ (Frieden, Genitiv: „pacis“) und dem Verb „facere“, das tun, machen und herstellen ausdrückt. Ein „pacificus“ ist demnach ein Frieden stiftender Mensch, der „pacificare“ betreibt. Er schließt Frieden, befriedet, besänftigt. Es geht beim Pazifismus um das „Friedenmachen“ oder „Frieden machend“. Die entsprechende Stelle im „Neuen Testament“ („Bergpredigt“) beginnt „Selig sind die Friedfertigen …“ („beati pacifici“).[3] Radikale Pazifisten – und in diesem Sinne sind sie religionskritische Freidenker – lehnen die „Bergpredigt“ als Begründung ab, weil sie nicht von „Waffenlosigkeit“ spricht und sich vor allem an Christen wendet: „Liebet eure Feinde; [segnet, die euch fluchen; tut wohl denen, die euch hassen;] bittet für die, so euch [beleidigen und] hassen.“[4]
Die heute geläufige Herleitung des Begriffs Pazifismus aus „pacis“ und „facere“ knüpft an den „Neuhumanismus“ des 18./19. Jahrhunderts an. Beides geht unbedingt zusammen: Humanismus – verstanden als Barmherzigkeit, Entrohung, Menschenwürde und Bildung – und Pazifismus angesichts der zum Ende des 19. Jahrhunderts als Potenzial zur Menschheitsvernichtung gesehenen Aufrüstung in Europa, die zum ersten Weltkrieg führte. Alfred Nobel stiftete gerade deshalb den nach ihm benannten Preis.
Es war der französische Anwalt und Schriftsteller Émile Arnaud, dem 1901 die Erfindung des Wortes in seinem Werk „Code de la Paix“ zugeschrieben wird. Wort und Programm des „Pazifismus“ wurde von einer zunächst sehr kleinen Gruppe von Intellektuellen vorgetragen, um ein Völkerrecht zu schaffen.[5] Bereits nach dem Ende der Napoleonischen Kriege nahmen in einigen europäischen Staaten pazifistische Bestrebungen einen bescheidenen Anfang. Sie formierten sich nach 1866/1871 neu. Es war dies auch die Zeit (1870), in der sich in Paris eine internationale Freidenkerbewegung konstituieren wollte. Deren Gründung fand jedoch wegen des Deutsch-Französischen Krieges erst zehn Jahre später (1880) statt. Die deutsche Sektion folgte ein Jahr später.
Arnaud wollte sich in seiner Arbeit klar von nur karitativ gemeinten, stark moralisierenden, eher humanitaristischen und lediglich religiös argumentierenden politischen Konzepten absetzen und ein Pendant zu den Begriffen und Bewegungen des Liberalismus und Sozialismus schaffen. Hierfür blieb ihm und seinen Mitstreiterinnen und Mitstreitern nur der Rekurs auf Humanismus und dessen Humanitätsidee.
Schon damals gebrauchte die deutsche Anhängerschaft von Arnaud das Wort „Pazifisten“ synonym mit „Friedensfreunde“. Doch dieser Ausdruck erschien, so Bertha von Suttner 1899, als nicht sehr „glücklich gewählter Name“. Denn ein „Freund des Friedens ist fast jeder, Bekämpfer des Krieges, davon gibt es erst eine kleine Schar“.[6] Man begrüßte nun bei den Friedensfreunden die Wortschöpfung von Arnaud, weil sie verbindlicher und klarer schien. Die Anhänger der Friedensbewegung erstrebten einen „gesicherten internationalen Rechtszustand“.
Dies war ein neuer Gedanke: Absage an jede kriegerische Gewaltstrategie, ausgeschlossen auch die Androhung bewaffneter Gewalt (modern: Abschreckung), mit dem Ziel der Kriegsverhinderung durch Abrüstung. Das Konzept schloss die Organisation der Kriegsgegner ebenso ein wie das der individuellen und kollektiven Kriegsdienstverweigerung. Es gehört zu den kulturhistorischen Leistungen des humanistischen Pazifismus, dass er diese Gedanken innovierte, dass er denkbar machte, dass die Welt ohne Kriege auszukommen vermag. Die Idee war „freidenkerisch“.
Diese Art freien Denkens hat Friedrich Nietzsche 1880/81 – zeitgleich zur Gründung der „Brüsseler-Freidenker-Internationale“ und des „Deutschen Freidenkerbundes“, die er wohl gar nicht kannte – wie folgt beschrieben: Es würden diejenigen zu Freidenkern, denen „schon ein Ausdenken und Aussprechen von verbotenen Dingen … Befriedigung giebt“.[7] Dieses weite Verständnis von Freidenkerei ist von dem gründlich zu unterscheiden, das dann die Freidenkerbewegung des 20. Jahrhunderts der „Klassenkämpfe“ prägt.
Kurze Freidenkergeschichte
Die Freidenkerei zwischen 1840 und 1930 fußte auf den sich popularisierenden Aufklärungsideen des 18. Jahrhunderts.[8] Der Begriff des Freidenkers kannte zunächst keine Organisiertheit, implizierte aber diverse Gruppenbildungen. Bereits das 1759 erschienene „Freydenker-Lexicon“ von Johann Anton Trinius nennt „Atheisten, Naturalisten, Deisten, grobe Indifferentisten, Sceptiker und dergleichen Leute“.[9]
Das Wort „Freidenker“ selbst kam um 1700 aus dem Englischen in die Welt und 1715 über Leibniz ins Deutsche. Es ging noch darum, den Unterschied zwischen Religion und Aberglauben in das Bewusstsein der Öffentlichkeit zu rücken. Das Ziel war eine aufgeklärte Religion, sprich: Christentum, aber auch, wie Lessings frühes Lustspiel von 1749 „Der Freygeist“ zeigt, um das Akzeptieren einer plural motivierten Haltung.
Durch die Freigabe des Zweifels im Gefolge der bürgerlichen Revolutionen des 18./19. Jahrhunderts (Stichwort: weitgehende Einschränkung der Zensur im Wissenschaftsbetrieb) verschwand die allgemeinste Ursache dieser frühen Freidenkerei. Das neue Freidenkertum, das ist die traditionelle freidenkerische Bewegung, entstand in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts aus bürgerlichen Emanzipationsbestrebungen. Sie war zum einen eine Intellektuellen-Bewegung außerhalb des akademischen Bereichs, ein freier geistiger Betrieb, konstituiert vorwiegend durch Privatgelehrte und Schriftsteller. Man hat ihre Angebote berechtigt als „Poetenphilosophie“ bezeichnet.
Viele von ihnen sahen sich als Weltanschauungsproduzenten – und waren dies auch.[10] In ihrem organisierten Teil handelte es sich um eine Glaubensbewegung, deren Anhänger in ihrer Religion frei sein wollten, weshalb sie sich auch „Freireligiöse“ nannten. Juristisch waren sie „Dissidenten“. Mit friedenspolitischen Ideen traten sie nicht gesondert hervor. Die zehn Forderungen des „Weimarer Kartells“ von 1909, des ersten großen Zusammenschlusses der Freidenker, sagte dazu nichts. Die Dissidenten dieser Zeit folgten zum einen ihrer christlichen Vergangenheit und einer bibelkritischen allgemeinen Friedensliebe, zum anderen ihren Gedankenvätern Immanuel Kant, Friedrich Schiller, Ludwig Feuerbach und Johann Wolfgang Goethe.
Zwei gesellschaftliche Bedürfnisse, die sich immer wieder bündelten und zu unterschiedlichen Organisationsformen führten, erzeugten gegen Ende des 19. Jahrhunderts ein breites Spektrum von atheistischen, freigeistigen, freireligiösen, agnostischen und humanistischen Verbänden. Da ist zum einen der Wunsch nach Freiheit des öffentlichen Nachdenkens, erlaubter Religionskritik und Lösung des engen Bandes zwischen Staat und Kirchen, Bildungswesen und Religion; zum anderen gab es immer wieder diverse Interessen von Dissidenten, heute Konfessionsfreie genannt, hinsichtlich Bildung, Festen und Feiern sowie der Einrichtung einer humanitären Praxis.
Zu Beginn des 20. Jahrhunderts veränderte sich die bürgerliche Intellektuellen-Debatte für neue Weltanschauungen und gegen eine dogmatische Kirche mit ihren Restriktionen des Geisteslebens. Ursachen dafür waren zum einen eine offenere Landschaft akademisch betriebener Wissenschaften mit weitgehender Forschungsfreiheit; zum anderen kam es zu öffentlich akzeptierten Individualisierungen der privaten Religionsausübung. Die Kirchen dieser Zeit waren dem Militär eng verbunden und förderten nationale Gesinnung. Das war Oberschichtenkultur.
Zugleich, und dies war eine Unterschichten-Bewegung, kam es zu einer massenhaften proletarischen Organisation mit entsprechenden Dienstleistungen (Sterbekassen, Jugendweihe), die gegen das vorherrschende Christentum stand. Das Bündnis von Thron und Altar, von Militär und Kirche drängte oppositionelle Arbeiter in diese Richtung. Die Verbindung von Darwins Evolutionstheorie mit Marx‘ Analyse der kapitalistischen Gesellschaft erzeugte eine im Verständnis der Sozialdemokratie „wissenschaftliche Weltanschauung“, den Sozialismus als Religionsersatz. Im Bild der Freidenker kam für einen künftigen „Volksstaat“ nur eine Freiwilligenkirche in Betracht, die sich mit ihren Gläubigen beschäftigt, aber nicht mit Bildung, Erziehung, Politik oder gar Militär. Die Sozialdemokratie warb für „Volksmilizen“ statt Armeen.
Der Begriff des „Militarismus“ wurde 1864 vom französischen Sozialisten Pierre Joseph Proudhon eingeführt.[11] Die Diskussion darüber verband sich gegen Ende des 19. Jahrhunderts mit der Kritik am „Imperialismus“ (Großmachtstreben)[12] – ein im 16. Jahrhundert geprägter Begriff, zurückgeführt auf das Römische Weltreich („imperium Romanum“). Die deutsche Arbeiterbewegung richtet ihre friedenspolitischen Stellungnahmen und Aktionen zunächst gegen den Militarismus[13] und ab 1911 (Referat von Clara Zetkin auf der 6. Frauenkonferenz in Jena) auch gegen den Imperialismus.[14] Diese Linie wurde besonders befördert durch den Freidenker Wilhelm Liebknecht (hier zuerst 1868 im „Allgemeinen Deutschen Arbeiterverein“) und dann durch seinen Sohn, den Rechtsanwalt Karl Liebknecht, ebenfalls Freidenker.
Karl Liebknecht und Rosa Luxemburg wurden zu pazifistischen Leitfiguren der linken Sozialdemokratie. Diese in der Arbeiterbewegung starke Gruppierung setzte sich im Parlament gegen den Militärhaushalt ein und forderte Abrüstungskonferenzen. Ansonsten waren auch freidenkerische Sozialdemokraten keine Kriegsdienstverweigerer. Es hatte sich vielmehr die Auffassung durchgesetzt, dass es gut sei, wenn die Arbeiter mit Waffen umgehen können, um sie später gegen ihre Unterdrücker einsetzen zu können.
Die Freidenker und das Friedensproblem
Die moderne Freidenkerbewegung und der Pazifismus als kriegerische Gewalt ablehnender Kernbestand von Friedensbewegungen sind Innovationen des frühen 20. Jahrhunderts. Sie überschneiden sich dort, wo Ideen der Humanität in einer bildungsbürgerlichen Sondergruppe der Freidenkerei (in den „Humanistengemeinden“ um 1900) aufgegriffen und transformiert werden in ein Programm des ethischen Humanismus, das sich auf Sozialarbeit, aber auch auf Frauen- und Mütterrechte sowie auf „Lebenskunde“ als einem schulischen Lehrfach bezieht, das an die Stelle von Religionsunterricht treten oder diesen ergänzen soll.
Diese Andeutungen zeigen, dass die gesellschaftlichen Akteure des Humanismus, des Pazifismus und der Freidenkerbewegung keineswegs selbstverständlich zusammen agierten, sich gar als zueinander gehörig empfanden. Große Gruppen der Freidenker, insofern sie sich den politischen Richtungen der sich im ersten Weltkrieg aufspaltenden Arbeiterbewegung zurechneten, waren – um radikale Haltungen gleich hier zuzuspitzen – für einen revolutionären Bürgerkrieg, für die Verteidigung der Revolution 1918/19 und ihre sozialistische Fortführung mit Waffengewalt, für gewaltsame Akte gegen Militärseelsorger.
Wer hier die Haltungen von Freidenkern herausfiltern will, muss zunächst ihre Zugehörigkeit zu solchen Vereinen halbwegs historisch verbürgt herausfinden und dann in die Parteiprogramme und ‑beschlüsse derjenigen Organisationen schauen, denen sie zugehörten, deren „Vorfeldeinrichtungen“ sie waren. Zu nennen sind hier der sozialdemokratische „Deutsche Freidenkerverband“,[15] der diesen Namen allerdings erst 1930 annahm, und die kommunistische „Zentralstelle proletarischer Freidenker“ (schon im Mai 1932 verboten).
Die Freidenkerbewegung war in den 1920er Jahren eine Massenbewegung mit Sterbekassen, Eigenbetrieben, Verlagen und einer ausgeprägten Fest- und Agitationskultur. Ihre Besonderheit ist – vereinfacht gesagt – die jeweilige kirchen- und religionspolitische Pointe der Politik ihrer Parteien. Genau genommen ist keine friedenspolitische Gemeinsamkeit der Freidenker feststellbar, weil sie nie zu einer einheitlichen Organisation fanden.
Anders wird dies nach dem zweiten Weltkrieg als sich in der Bundesrepublik Freidenker gegen die Wiederbewaffnung und dann für Friedensbewegungen und Kriegsdienstverweigerungen engagieren – und zwar unabhängig davon, ob dies sozialdemokratische oder kommunistische Freidenker waren (bei allen sonstigen grundsätzlichen Unterschieden). Die Idee einer ethischen Soldatenberatung stand bis in die 1990er Jahre außerhalb des freidenkerisch Vorstellbaren. Sie kam erst durch Aneignungen holländischer Erfahrungen in den „Humanistischen Verband Deutschlands“, auf den noch eingegangen wird.
In der DDR wiederum gab es bis Ende 1988 keine eigenständige Freidenker‑, aber eine verstaatlichte Arbeiterbewegung, darin bestimmte „Anwendungen“ alter Forderungen der Trennung von Staat und Kirche sowie Religion und Schule, der Feierkultur (Jugendweihe) und der Staatsrituale. Militär, Polizei und Staatssicherheit waren, vereinfacht formuliert, „religionsfrei“ und ein bestimmtes Verständnis von Humanismus Teil der gesellschaftlichen Weltanschauungspolitik.[16] Als es mit der DDR zu Ende ging, waren es diejenigen Teile des „Verbandes der Freidenker“ in den ehemaligen Bezirken Potsdam und Halle/Saale, die sich selbst reformierten und dann in den HVD gingen, die – ohne ein historisches Bewusstsein dieser Tradition zu haben – Ideen und Praktiken eines ethischen Humanismus ausbildeten.[17]
„Humanismus“, der als solcher und mit diesem Wort gedacht und programmatisch wurde für Dissidenten, kam – von den schon erwähnten ethischen Humanisten um 1900 abgesehen – erst Anfang der 1990er Jahre in die nun neue, gesamtdeutsche Freidenkerbewegung – und zwar zuerst als „säkularer Humanismus“ in einer stark religionskritischen US-amerikanischen Variante des Norwegers Finngeir Hiorth, der ihn vorwiegend als eine säkularisierende Philosophie verstand.
Während sich bei Hiorth keine besonderen Ausführungen zur Friedensproblematik finden,[18] gibt es beim langjährigen Haupttheoretiker dieses Humanismus, Paul Kurtz, eine kleine, sehr allgemeine Notiz. Innerhalb des ersten Punktes seiner Ausführungen zu Grund- und Universalrechten („Recht auf Leben“) formuliert ein zweiter Abschnitt, der „Verteidigung gegen äußere Aggression“ überschrieben ist: „Individuen, die in einem definierten Bereich leben, müssen gegenüber plündernden Banden oder Invasionskräften durch die Einrichtung von Sicherheitskräften oder eines Verteidigungsheeres geschützt werden. Ohne einen Zustand des Friedens kann niemand in Sicherheit leben.“[19]
Im Anfang 1993 gegründeten HVD standen große Teile der Mitgliedschaft noch lange in der Tradition der Friedensbewegung und Kriegsdienstverweigerung. Deutlicher Ausdruck dieser Orientierung ist eine vom HVD Berlin als „Hommage an Ossip K. Flechtheim“ herausgegebene Broschüre.[20] Ihr Anliegen ist es zum einen, Kriegsdienstverweigerung zwischen Pazifismus und Antimilitarismus zu verorten, und zum anderen die Friedensbewegung als gesellschaftliche Protestbewegung zu charakterisieren, unterschieden von staatlich-diplomatischen Handlungen.
Eine breitere Projektlandschaft (Schulfach Lebenskunde, Patientenverfügungen, Schwangeren- und Konfliktberatung, eigene Kinder‑, Jugend- und Sozialeinrichtungen) und durch Tagungen und Publikationen der „Humanistischen Akademie“ ab 1997 erweiterte sich das Verständnis von Humanismus im HVD. Im Zuge der Hinwendung zu einem praktischen Humanismus veränderten sich auch die grundlegenden Aussagen zur Krieg-Frieden-Problematik. Das „Humanistische Selbstverständnis“ von 1995, eine Kurzfassung des Gründungsdokuments von 1993, sagte im neunten Grundsatz noch ganz rigoros: „Der Krieg, die Produktion von Massenvernichtungsmitteln und der Handel mit Kriegsmaterial sind Ausdruck inhumaner Verhaltensweisen von Menschen. Frieden, Gleichheit und Gerechtigkeit sind dagegen die zentralen Ziele des Humanismus.“ Darin eingebettet ist unter „Politische Zukunft“ auch die Forderung, „konfessionsfreie Soldaten in Lebensfragen zu beraten.“
Zwanzig Jahre später fallen im „Humanistischen Selbstverständnis“ von 2015 die Formulierungen allgemeiner aus: „Wir setzen uns dafür ein, Wege friedlicher Konfliktlösung zu finden, Abrüstung zu verwirklichen und dauerhaften Frieden zwischen den Völkern zu schaffen.“ Das Thema „Soldatenseelsorge“ ist in die anderen Forderungen zur Gleichbehandlung der angebotenen Beratungsformen eingeordnet: „Es bedarf eines gleichberechtigten rechtlichen und finanziellen Rahmens für die stabile institutionelle Förderung der Träger weltanschaulicher Arbeit. Das betrifft den Sozial‑, Bildungs- und Kulturbereich wie auch die humanistische Beratung in Gefängnissen, Krankenhäusern oder Bundeswehr.“
Den Part einer aktiven Friedenspolitik hat im humanistischen Spektrum weitgehend die „Humanistische Union“ übernommen. Sie wurde 1961 vor dem Bau der Mauer gegründet. Sie versteht Humanismus durchaus als säkularisierendes Programm in freidenkerischer Tradition, doch steht sie als bürgerliche Intellektuellenorganisation bewusst denjenigen Verbänden fremdelnd gegenüber, die sich selbst den Restbeständen der Freidenkerbewegung zurechnen. Bis heute hat die HU eine unmittelbare Nähe zu friedenspolitischen Aktionen und lehnt nahezu alle Militäreinsätze mit durchaus zum Pazifismus neigenden Argumenten rigoros ab. Ihren Humanismus versteht die HU „bürgerrechtlich“.
Freidenkerische Pazifisten im ersten Weltkrieg
Zu Kriegsbeginn 1914 kam es besonders im „Deutschen Monistenbund“ zu einem Streit, der sich auf die deutsche Freidenkerei ebenso Struktur bildend auswirkte wie auf die Friedensbewegung. Der Vereinsvorsitzende Ernst Haeckel und sein Nachfolger, der Nobelpreisträger Wilhelm Ostwald, unterzeichneten im Oktober 1914 gemeinsam mit Max Planck und weiteren neunzig Professoren den vom Berliner Altphilologen Ulrich von Wilamowitz-Moellendorff angeregten Aufruf „An die Kulturwelt“ gegen Englands „Blutschuld“ im Weltkrieg: die „Feinde Deutschlands, England an der Spitze“, die „angeblich zu unsern Gunsten einen Gegensatz machen wollen zwischen dem Geiste der Wissenschaft und dem, was sie den preußischen Militarismus nennen“, sollen wissen, „daß für die ganze Kultur Europas das Heil an dem Siege hängt, den der deutsche ‚Militarismus‘ erkämpfen wird“.[21]
Es kamen um die 4.000 Unterschriften zusammen. Nur Max und Alfred Weber, Georg Friedrich Knapp, Lujo Brentano, Leopold von Wiese, Ludwig Quidde (im Monistenbund aktiv), Friedrich Wilhelm Foerster, Walter Schücking („Deutsche Friedensunion“) und Albert Einstein entzogen sich der Kriegspsychose der ersten Kriegswochen. Ostwald, der sich bis dahin als bekennender „Kosmopolit“ verstand und organisierter Anhänger der „Deutschen Friedensgesellschaft“ war, aus der er 1917 demonstrativ austrat, und auch dem „Verband für internationale Verständigung“ angehörte, verweigerte eine weitere Erklärung, „in welcher die deutschen Gelehrten als Antwort auf die englische Kriegserklärung geschlossen ihre englischen Ehrungen niederlegten“.[22]
Die bellizistische Haltung Ostwalds bewirkte im Monistenbund die Gründung einer „von den absoluten Pazifisten gebildete[n] Gruppe, welche jeden Patriotismus als Chauvinismus brandmarkte und mit dem Präsidenten … sehr unzufrieden“ wurde.[23] Das hatte zur Folge, dass sich während des ersten Weltkrieges die Freidenkerbewegung zu einem Sammelbecken für Pazifisten entwickelte. Georg Graf von Arco übernahm 1916 die Berliner Zelle des Monistenbundes. Der berühmte Rennreiter Kurt von Tepper-Laski, Berliner Leiter des „Komitees Konfessionslos“, hatte mit Otto Lehmann-Rußbüldt 1915 den „Bund Neues Vaterland“ gegründet, eine entschiedene Friedensorganisation.
Besonders Friedrich Wilhelm Foerster, der Erfinder des Begriffs „Lebenskunde“ und als Person noch immer identifiziert mit der „Deutschen Gesellschaft für Ethische Kultur“ (1892–1936), die in Berlin und anderen großen Städten ab 1892 „Humanistengemeinden“ gegründet hatte, war zum Symbol eines entschiedenen Pazifismus geworden. Seine Weltoffenheit, sein Eintreten für einen Verständigungsfrieden und seine Tätigkeit als Bayerischer Gesandter in der Schweiz 1918/19 brachten ihn 1922 auf die Mörderliste, der Walter Rathenau zum Opfer fiel. Rechtzeitig gewarnt, floh Foerster zunächst in die Schweiz. Dort verfolgten ihn noch im hohen Alter die Nationalsozialisten, so dass er von 1940 bis 1963 in den USA Exil suchen musste.[24]
Allen seinen späteren Gegnern blieb in Erinnerung, dass Foerster trotz massiver Anfeindungen während des Krieges seinen Pazifismus durchhielt und ihn 1917/18 in München sogar in Vorlesungen ausdrückte, worauf sich eine gesellschaftskritische freistudentische Gruppe bildete, die gleiche, vor der Max Weber am 7. November 1917 den Vortrag „Geistige Arbeit als Beruf“ (publiziert unter dem Titel „Wissenschaft als Beruf“) und am 28. Januar 1919 seinen ebenso berühmten Vortrag über „Politik als Beruf“ hielt, auch, um Foersters Humanismus und Pazifismus zu korrigieren, der verhängnisvoll – wie die „Oberste Heeresleitung“ konstatierte – auf eben diese neue schwärmerische junge Intelligenz ausstrahlte und deren Kriegsmüdigkeit artikulierte.[25]
Gegen die sozialdarwinistische Haeckel-Fraktion und die „energetische“ Fraktion um Ostwald, die beide innerhalb des organisierten Monismus im Krieg zunehmend bellizistisch argumentierten, erhob sich eine pazifistische Glücksphilosophie zum Gegenkonzept, vertreten vor allem durch den Arzt, Psychiater und Philosophen Franz Müller-Lyer. Er lebte als Privatgelehrter in München und war Anhänger des freigeistigen Weimarer Kartells und Mitbegründer des „Mutterschutzbundes“. Müller-Lyer trug eine „Kulturwissenschaft“ vor, mit deren Hilfe man, wie er meinte, lernen könne, wie die Kultur der Welt in ihrem friedlichen Gang zu richten sei. „Kulturbeherrschung“ war der Kern des Konzepts. In der Tendenz lief dieses Programm auf eine „Menschengemeinschaft“ im Zeitalter der Massen hinaus.[26]
Auf diesen „Euphoristen-Orden“, wie die Organisation hieß, in der zahlreiche Pazifisten während der Zeit des Krieges sich versammelten, ist hier zu verweisen, weil die Rezeption dieser Ideen später Anschlusspunkte lieferte für die moderne Zukunftsforschung, die im Kalten Krieg ihren Anfang nahm und pazifistische Gedanken in den organisierten Humanismus hineintrug – eine Leistung, die Ossip K. Flechtheim wesentlich zu verdanken ist.
Freidenker und Pazifismus nach dem zweiten Weltkrieg
In dem Maße, wie sich die Arbeiterbewegung nach 1917 spaltete, folgte die Freidenkerbewegung diesen Gruppenbildungen mit entsprechenden Varianten des Sozialismus bzw. Kommunismus. Da alle politischen Parteien in der Weimarer Republik ihre uniformierten, zum Teil bewaffneten „Armeen“ hatten (Arbeiterbewegung: „Reichsbanner Schwarz-Rot-Gold“, „Roter Frontkämpferbund“), finden sich in ihren Reihen mit hoher Wahrscheinlichkeit auch organisierte Freidenker. Zugleich entfaltete sich in der „Zwischenkriegszeit“ eine gesonderte pazifistische Bewegung und Organisationskultur, in der ebenfalls Freidenker wirkten, besonders das „Deutsche Friedenskartell“ und im Umfeld der Berliner „Weltfriedenskonferenz“ von 1924 (Carl von Ossietzky).
Die Strukturen der Arbeiter- und Friedensbewegung und die proletarischen Freidenkervereine wurden durch den Nationalsozialismus zerstört. Nach dem zweiten Weltkrieg lösten sich in beiden deutschen Staaten durch unterschiedliche Maßnahmen die sozialen Milieus auf, die auch die Freidenkerbewegung trugen. Gleichzeitig verselbständigten sich diverse Friedensbewegungen anhand jeweils konkreter Anlässe, in denen die Religionsfrage nicht mehr gestellt wird. Die Sache wird überkonfessionell. Auch Christen wenden sich gegen Militärseelsorge.
Die Geschichte der Freidenker in den Westzonen und dann der Bundesrepublik kann hier nicht ausgebreitet werden. Für unseren Gegenstand ist wichtig, dass der Deutsche Freidenkerverband, 1933 verboten, 1951 in der Bundesrepublik wieder gegründet wurde. In Berlin war allerdings bereits im Sommer 1947 ein Ausschuss von Freidenkern entstanden, der entsprechende Aktivitäten entfaltete, Jugendweihen durchführte und einen „Freidenker-Verband Groß-Berlin“ vorbereitete, der dann am 20. Juni 1949 gegründet wurde mit Personen aus dem Sowjetsektor. Im Osten Berlins und in der SBZ hatte sich die SED schon unmittelbar nach ihrer Gründung gegen den Wiederaufbau eines Freidenkerverbandes entschieden.
Der Westberliner Verband erhielt seit den 1950er Jahren öffentliche Mittel. Er anerkannte im Gegenzug den Staat (hier das Land Berlin), wollte ihn nicht mehr revolutionär beseitigen. Das hatte zur Folge, dass sich die Westberliner Organisation, mehrheitlich Sozialdemokraten, in der Folge vom Deutschen Freidenkerverband lösten, sich in den 1970ern davon völlig trennten und sich zum Deutschen Freidenkerverband (Sitz Berlin) erklärten.
Daneben gab es noch den DFV (Sitz Dortmund). Diesem warfen die „Berliner“ vor dem Mauerbau mit einiger Berechtigung vor, er unterstütze einseitig die kommunistische Partei und sei ein Sammelbecken für ehemalige KPD-Funktionäre. „Zwar bemühte man sich noch gemeinsam um die rechtliche Wiederherstellung des 1933 von den Nazis verbotenen Verbandes und die Herausgabe des Freidenkervermögens, faktisch aber ging man getrennte Wege.“[27] Der Berliner Verband wurde auf diese Weise zu einem Landesverband, der zugleich – juristisch gesehen – ein Bundesverein war, der dann 1990 bis 1993 die Gründung des HVD beförderte.
Mit Beginn der 1980er Jahre rief der Zukunftsforscher und kritische Intellektuelle Ossip K. Flechtheim die freigeistige Tradition des ethischen Humanismus in Erinnerung. Er war Freidenker und Mitglied des Berliner Verbandes. Als Kleinkind kam Flechtheim 1910 aus Russland nach Münster. Nach dem Abitur trat er 1927 in Düsseldorf aus der Synagogengemeinde aus und schloss sich eine zeitlang der KPD an. Im gleichen Jahr begann er mit dem Studium der Staats- und Rechtswissenschaften. 1935 musste er Deutschland verlassen und arbeitete wissenschaftlich in der Schweiz und den USA.
1951 kehrte Flechtheim nach Berlin zurück, wo er 1954 an der Hochschule für Politik die Stelle eines Direktors des „Instituts für Zukunftsforschung“ antrat. Als radikaler Demokrat kritisierte Flechtheim die Entwicklung in der Bundesrepublik. Besorgt und tief enttäuscht angesichts der Restauration in den 1950er Jahren, und dass seine linken Positionen nicht mehr gefragt waren, verließ er 1961 die SPD und ging später mit den „Grünen“. Flechtheim wirkte in der „Internationalen Liga für Menschenrechte“ und dem „PEN-Zentrum“. Flechtheims Vorwort zur Schrift „Religion ist Menschenwerk“ des Deutschen Freidenkerverbandes, Sitz Berlin, 1980 enthielt für die spätere Gründung des HVD wichtige Passagen über Humanismus als „Global‑, Human- und Ökosozialismus“. In der Phase des Zusammenbruchs des östlichen Staatssozialismus wie der endgültigen Marginalisierung der westlichen dogmatischen Linken und deren Versuche, ausgerechnet Pazifismus für sich zu reklamieren, erhoffte sich Flechtheim neue Orientierungen.
Humanismus, Pazifismus und Kosovo-Krieg
Es gehört zu den theoretischen wie praktisch spürbaren Mängeln des organisierten Humanismus in der Gegenwart, dass die Verbindungen zwischen Pazifismus und Humanismus ungenügend erforscht sind. Dies in doppelter Hinsicht: das humanistische Denken in Fortsetzung der Ideen von Bertha von Suttner („Die Waffen nieder!“; 1889); und in Abgrenzung von militärischen Interventionen im Namen des Humanismus.[28] Daraus folgt eine unentschiedene Praxis.
Ein Beispiel dafür war 1999 der Streit um den Kosovo-Konflikt. Hier hat sich besonders Peter Schulz-Hageleit, 1997 Gründungspräsident der Humanistischen Akademie Berlin, „freidenkerisch“ positioniert. Er veröffentlichte 1999 auf eigene Kosten ein Sonderheft von „humanismus aktuell“, der Zeitschrift der Akademie als „Ein Essay über Humanismus in Zeiten des Krieges“. Er schrieb aus betont friedenspolitischer Position, was er aus Lebenserfahrung und Lehrklugheit ableitete: Humanismus sei nicht gleich „Pazifismus im Sinn einer bedingungslosen Ablehnung von Gewalt.“ Aber: „Der Hauptinhalt humanistischen Denkens ist gleichwohl Frieden als Grundbedingung kraftvoll sich entfaltenden guten Lebens.“[29]
Aber, diskutiert Schulz-Hageleit diesen Gedanken weiter: „Ist angesichts dieser radikalen Ablehnung des Krieges konsequenter Pazifismus um jeden Preis die einzig mögliche humanistische Lebenshaltung? Ganz so einfach ist das nicht. Auch gute Eltern müssen zuweilen gewaltsam eingreifen, wenn andere Mittel versagen.“[30] Er antwortet: „Es genügt festzustellen, dass ein radikaler Pazifismus in dem Sinn, dass Waffen um keinen Preis eingesetzt werden dürfen, aus geschichtlichen Erfahrungen nicht abzuleiten ist. Doch auch der Umkehrschluss (Gewalt ist unvermeidbar, die Geschichte ‘beweise’ es) ist nicht zulässig. Die Geschichte beweist alles, was bewiesen werden soll, und sie bleibt sich selbst ja nie gleich.“
In seinem wenige Jahre später erschienenen Werk „Die leisen Stimmen der Vernunft“ nahm er diese Frage wieder auf. Seine Antwort ist, dass sich gerade Humanisten letztlich auf das Verstehen von Geschichte verlassen müssen. Sie haben mit allen andren zu lernen, ohne Feinde zu leben – aus Vernunft, die eben auch „das Unerledigte ‘das ‚Unerhörte’, das vor uns liegende bzw. Liegengebliebene“ ist.[31] Aufarbeitung sei nötig, mit Ambivalenzen zu leben besonders. Das Problem sei nicht, dass die „leisen Stimmen der Vernunft kaum zu hören“ seien, sondern dass man sich anzustrengen müsse, damit die vielen Vernünftigen einen Resonanzboden bekommen.
Hartnäckig verfolgt Schulz-Hageleit eine Gegenwarts- und Geschichtsbetrachtung, die stets den Lebensbezug erkennen lässt, der ihm wichtiger ist als alle Weitweg-Philosophie. Realität sind ihm dabei historische Ereignisse ebenso wie in die Realität eingegangene Geschichten und Legenden, die ein Eigenleben führen und seit der Antike verhandelt werden: Sisyphos, Kassandra, Rabelais, Zola … Es geht ihm dabei um Genuss und Disziplin, Vernunft und Leidenschaft, Bindung und Emanzipation – und stets um Dialektik, nicht um „Leitsätze“ oder gar „Leitkultur“.
Fazit
Seit den frühen Pazifisten des 20. Jahrhunderts wird Humanismus auch als Anspruch gesehen, Menschen zu einem solidarischen und verantwortlichen Verhalten zu befähigen, dass Kriege verhindert. Das humanistische Verständnis schließt Toleranz ein, unmittelbar verknüpft mit dem kämpferischen Eintreten für gesellschaftlichen Ausgleich im Alltag wie in den Staatsangelegenheiten. Demokratie und Völkerverständigung gelten dabei als Grundprinzipien, diesen Ausgleich zu suchen und zu erreichen. Es wird vorausgesetzt, dass Menschen ihre Interessen – eingeschlossen die pazifistisch motivierten – anmelden unter Berufung auf ihre Bedürfnisse, die ebenso irdisch sind wie die Lösung gesellschaftlicher und individueller Konflikte.
Das wiederum heißt nun gerade nicht, dass Humanisten auch Verteidigungskriege generell ablehnen, besonders, wenn sie ausgebrochen sind und ihre Beendigung nur durch bewaffneten Kampf zu erreichen ist.[32] Beispiele dafür sind die Einsätze von Humanisten gegen den Nationalsozialismus, sowohl im Spanischen Bürgerkrieg, aber besonders im Widerstand gegen deutsche Besatzungen, an denen sich auch Deutsche beteiligten. In der Literatur angeführt wird hier meist Heinrich Manns Bild vom tatbereiten Humanisten und König Henri Quarte.[33] Aber auch die Motivation der Widerstandsgruppe „Weiße Rose“ in Hamburg gegen den Nationalsozialismus gilt als kämpferischer Humanismus.[34]
Im Kampf gegen den Faschismus sei ein militanter Humanismus nötig, schrieb fast zeitgleich im Pariser Exil der sozialdemokratische Philosoph Siegfried Marck.[35] Die „Pariser Tageszeitung“ ist eine überraschende und sicher seltene Quelle. Sein ein Jahr später erschienenes Buch „Der Neuhumanismus als politische Philosophie“ enthält ähnliche Aussagen.[36]
In ihren Antworten auf Fragen nach Krieg und Frieden, Abgrenzung und Toleranz, Konkurrenz und Einigung lernen Humanistinnen und Humanisten aus den in Geschichte, Künsten, Medien und Wissenschaften vor ihnen ausgebreiteten Erfahrungen für die eigene Biographie. Sie wissen, zu welchen Heldentaten und Verbrechen Menschen in der Lage sind und wie oft unklar bleibt, was das eine und was das andere ist. Deshalb eint sie das Bewusstsein, dass die Gefahr, selbst oder andere ins Elend zu stürzen, nie gebannt ist, und dass Krieg, Naturzerstörung und materielle Not Geißeln der Menschheit sind. Jeder Dogmatismus und Fundamentalismus sowie jeder pädagogische, religiöse, rassistische, kapitalistische, militaristische und nationalistische Wahn wird von ihnen als Krieg fördernde Zuspitzung gesellschaftlicher Ziele abgelehnt.
In diesem Sinne wird es in Bezug auf die vorherrschende öffentliche Meinung immer Freidenker geben, religiös oder nichtreligiös orientiert, aber ethisch und humanitär motiviert. Sie wollen durch vorurteilsfreies Denken hinter die gesellschaftlichen Nebel kommen, wie Kriege gemacht werden. Ihnen erscheinen die Gründe, sie zu führen, sollten sie auch noch so „vernünftig“ scheinen, als trügerisch. Die Logik der Barmherzigkeit, der Menschenwürde und der Menschenrechte steht immer quer zu dem Sog und dem Eifer, den die Mechanismen des Kriegsbeginns und der Kriegsführung bei Menschen auslösen können, sie zwingen, ihn weiter zu führen.
Dafür hat der griechische Dichter Pindar um 480 v.u.Z. eine durchaus unheroische Formel gefunden: „Süß ist der Krieg für die Unerfahrenen. Ein Erfahrener aber fürchtet ihn, wenn er herankommt, im Herzen über die Maßen.“ Der Humanist Erasmus hat diesen Satz als Sprichwort an die europäische Kultur weitergegeben in seinem leidenschaftlichen Plädoyer gegen den Krieg, der das Gegenteil der Humanität ist.[37]
Quelle Text:
Horst Groschopp: Humanismus und Pazifismus in der deutschen Freidenkerbewegung. In: Ders. (Hrsg.): Pro Humanismus. Eine zeitgeschichtliche Kulturstudie. Mit einer Dokumentation. Aschaffenburg 2016, S. 154–170.
Der vorliegende Text wurde im Frühjahr 2007 erstellt und im Spätherbst 2015 für das „Handbuch Friedensethik“ überarbeitet, dort aber aus formalen Gründen nicht publiziert und als Anhang in der oben genannten Publikation veröffentlicht. Ich danke Hildegard Cancik-Lindemaier, Hubert Cancik und Thomas Heinrichs für gute Hinweise.
Quelle Titelfoto:
Deckblatt SPD-Maifestzeitung 1914. In: Udo Achten: Illustrierte Geschichte des 1. Mai. Oberhausen 1979, S. 171.
[1] Der Eintrag auf stattweb.de wurde inzwischen gelöscht.
[2] Das bedeutet nicht, dass es im Pazifismus nicht auch Strömungen gibt, die jede Gewalt ablehnen.
[3] Zitiert nach der Luther-Übersetzung, revidierter Text, Berlin 1956, Matthäus 5,9: „Selig sind die Friedfertigen; denn sie werden Gott schauen.“
[4] Matthäus 5,44.
[5] Vgl. Karl Holl: Pazifismus in Deutschland. Frankfurt a.M. 1988. – Pazifismus. Ideengeschichte, Theorie und Praxis. Hrsg. von Barbara Bleisch/Christa Strub/Jean-Daniel Strub. Bern/Stuttgart/Wien 2006.
[6] Hans-Joachim Beeskow: Kirchengeschichte von „links“ und von „unten“. Studien zur Kirchengeschichte des 19. und 20. Jahrhunderts. Berlin/Basel 2011, S. 237.
[7] Friedrich Nietzsche: Gedanken über die moralischen Vorurtheile (1881). In: Nietzsche Werke. Kritische Gesamtausgabe. Hrsg. von Giorgio Colli/Mazzino Montinari. Fünfte Abteilung. Erster Band. Berlin/New York 1971, S. 29.
[8] Vgl. Horst Groschopp: Dissidenten. Freidenker und Kultur in Deutschland (1997). Marburg 2011.
[9] Trinius zitiert bei Reiner Wild: Freidenker in Deutschland. In: Zeitschrift für Historische Forschung 1979, S. 253–285, hier S. 254 f.
[10] Vgl. Frank Simon-Ritz: Die Organisation einer Weltanschauung. Die freigeistige Bewegung im Wilhelminischen Deutschland. Gütersloh 1997.
[11] Vgl. Erhard Assmus: Die publizistische Diskussion um den Militarismus unter besonderer Berücksichtigung der Geschichte des Begriffes in Deutschland und seiner Beziehung zu den politischen Ideen zwischen 1850 und 1950. Maschinenschriftliche Dissertation. Philosophische Fakultät, 30. Juli 1951. Erlangen. – Der Autor untersucht in seiner gründlichen, aber bislang wenig beachteten Studie, das katholische Denken über Militarismus und Antimilitarismus.
[12] Erst nach dem Ersten Weltkrieg wird Imperialismus auch als (so Lenin) höchste und letzte Stufe der kapitalistischen Ökonomie gedacht.
[13] Vgl. Wilhelm Schröder: Handbuch der sozialdemokratischen Parteitage von 1863 bis 1909; Handbuch der sozialdemokratischen Parteitage von 1910 bis 1913. München 1910, S. 311–332; München 1917, S. 434–474.
[14] Vgl. Schröder: Handbuch 1917, S. 225–245.
[15] Der DFV geht zurück auf den 1905 in Berlin gegründeten „Verein der Freidenker für Feuerbestattung“. Von diesem führt die Organisationsgeschichte hin zum HVD Berlin.
[16] Vgl. Horst Groschopp: Der ganze Mensch. Die DDR und der Humanismus. Ein Beitrag zur deutschen Kulturgeschichte. Marburg 2013.
[17] Vgl. Horst Groschopp/Eckhard Müller: Letzter Versuch einer Offensive. Der Verband der Freidenker der DDR (1988–1990). Ein dokumentarisches Lesebuch. Aschaffenburg 2013.
[18] Vgl. Finngeir Hiorth: Humanismus – genau betrachtet. Eine Einführung. Neustadt am Rübenberge 1996.
[19] Paul Kurtz: Verbotene Früchte. Ethik des Humanismus (1988). Neustadt am Rübenberge 1998, S. 269.
[20] Vgl. Kriegsdienste verweigern. Pazifismus heute. Hommage an Ossip K. Flechtheim. Hrsg. von Wolfram Beyer. Berlin 2000.
[21] Bernhard vom Brocke: Wissenschaft und Militarismus. Der Aufruf der 93 „An die Kulturwelt!“ und der Zusammenbruch der internationalen Gelehrtenrepublik im Ersten Weltkrieg. In: Wilamowitz nach 50 Jahren. Hrsg. von William M. Calder III./Hellmut Flashar/Theodor Lindken. Darmstadt 1985, S. 651. – Vgl. Aufrufe und Reden deutscher Professoren im Ersten Weltkrieg. Hrsg. von Klaus Böhme. Stuttgart 1975.
[22] Grete Ostwald: Wilhelm Ostwald, mein Vater. Stuttgart 1953, S. 171.
[23] Ostwald: Wilhelm Ostwald, S. 173.
[24] Vgl. Friedrich Wilhelm Foerster: Erlebte Weltgeschichte 1869–1953. Memoiren. Nürnberg 1953. – Horst Groschopp: Die drei berühmten Foersters und die ethische Kultur. Humanismus in Berlin um 1900. In: Humanismus und Humanisierung. Hrsg. von Horst Groschopp. Aschaffenburg 2014 S. 157–173.
[25] Vgl. Max Weber: Wissenschaft als Beruf (1917/19); Politik als Beruf (1919). Hrsg. von Wolfgang J. Mommsen/Wolfgang Schluchter. Tübingen 1992, S. 28 f., 60 f., 115 (Max Weber Gesamtausgabe, Band 17).
[26] Vgl. Franz C. Müller-Lyer: Wege zur Kulturbeherrschung. Schriften aus dem Euphoristen-Orden. München 1913 (nur Band 1 erschienen).
[27] Manfred Isemeyer: Freigeistige Bewegungen in der Bundesrepublik 1945 bis 1990. Ein Überblick. In: Säkulare Geschichtspolitik. Hrsg. von Horst Groschopp. Berlin 2007, S. 84–95, hier S. 92.
[28] Erst jüngst hat sich der organisierte Humanismus der Denktradition des Humanitarismus geöffnet. Vgl. Heinz-Bernhard Wohlfarth: Humanitarismus. In: Humanismus: Grundbegriffe. Hrsg. von Hubert Cancik/Horst Groschopp/Frieder Otto Wolf. Berlin 2016, S. 31–38.
[29] Peter Schulz-Hageleit: Lebensstrom und Rationalität. Ein Essay über Humanismus in Zeiten des Krieges. Berlin 1999, S. 5.
[30] Schulz-Hageleit: Lebensstrom und Rationalität, S. 63. – Hier auch das folgende Zitat.
[31] Peter Schulz-Hageleit: Die leisen Stimmen der Vernunft. Tonaufnahmen im Schlachthaus der Geschichte. Herbolzheim 2006, S. 159.
[32] Dem Problem, inwiefern dann eine „humanitäre Kriegführung“ diskutiert wird, kann nicht nachgegangen werden.
[33] Heinrich Mann: Gestaltung und Lehre (1939). In: Heinrich Mann. Verteidigung der Kultur. Antifaschistische Streitschriften und Essays. Hrsg. von Werner Herden. 2. Auflage. Berlin/Weimar 1973, S. 481–486, hier S. 485.
[34] Ursel Hochmuth: Candidates of Humanity. Dokumentation zur Hamburger Weißen Rose anläßlich des 50. Geburtstages von Hans Leipelt. Hamburg 1971, S. 45 ff.
[35] Vgl. Siegfried Marck: Militanter Humanismus. Zwei Vortraege. Pariser Tageszeitung, 2. Jg., Nr. 286 (24.3.1937), S. 4.
[36] Zürich 1938, S. 203–209.
[37] Pindar, Fragment 110. (1954): Pindari Carmina cum fragmentis. Hrsg. von Bruno Snell. Leipzig 1954, S. 255. – Erasmus, Adagium 3001. In: Opera Omnia Desiderii Erasmi Roterodami recognita et adnotatione critica instructa notisque illustrata. Amsterdam e. a. 1981–2005. II, Bd. 7, S. 11.